Die Eltern hatten versprochen, die Tür offen zu lassen. Deshalb hatte Tamar keinen Schlüssel bei sich. Jetzt war die Tür fest verschlossen. Tamar klopfte, lief ums Haus, pochte an die Fenster, rief die Namen ihrer Eltern. Keine Antwort. Dann hörte sie den kleinen Jischai schluchzen. Dem Mädchen wurde unheimlich. Sie lief zur ihrer Freundin ins Nachbarhaus und rief deren Vater, Jaakov Cohen. Gemeinsam gelang es ihnen, die Haustür zu öffnen. Cohen war es peinlich, mitten in der Nacht in das Haus der Nachbarfamilie einzudringen. Deshalb ließ er dem Mädchen den Vortritt.
Der Anblick, der sich Tamar Vogel bot, wird die Zwölfjährige ein Leben lang nicht mehr loslassen: "Ich sah Mama blutüberströmt auf dem Boden liegen!" Laut schreiend floh sie vom Ort des Schreckens. Jaakov Cohen entsicherte seine Pistole und schoss zweimal in die Luft, um Hilfe herbeizurufen, bevor er das Haus der Vogels betrat. Vor der Badezimmertür lag Ruth Vogel (35) in einer großen Blutlache. Ihr Mann Udi (36) lag im Bett, ebenfalls erstochen. Die drei Monate alte Hadas war in den Armen ihres Vaters geschlachtet worden. Neben den leblosen Körpern saß schluchzend der zweieinhalbjährige Jischai und bemühte sich, seine Eltern aufzuwecken. In einem Kinderzimmer gleich daneben lagen die beiden Buben Joav (11) und Elad (4), ebenfalls tot. Joav war die Kehle durchschnitten worden.
Gegen 21 Uhr hatte der elektronische Zaun der Siedlung einen Alarm gemeldet. Ein Wachmann hatte sich zu der Stelle begeben, keine Unregelmäßigkeiten festgestellt und entschieden, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Familie Vogel feierte um diese Zeit Erev Schabbat, den Schabbat-Eingang. 15 Freundinnen von Tamar nahmen an der Mahlzeit teil. Gemeinsam sangen sie die Semirot Schabbat, die Sabbatlieder. Etwa um Viertel nach zehn verließen die großen Mädchen das Haus. Der Rest der Familie ging zu Bett.
Nach ersten Ermittlungen waren mindestens zwei Terroristen über den Zaun gestiegen, die sich offensichtlich gut in der Siedlung Itamar im Herzen von Samaria, unweit der Stadt Nablus, auskannten. Eineinhalb Stunden lang nahmen sie sich Zeit, um ihre Opfer auszuwählen und zu beobachten. Dann nutzten sie die unverschlossene Haustür, um in das Wohnhaus der Familie Vogel einzudringen. Zuerst fanden sie Elad und Joav und erstachen sie in ihren Betten. Irgendwie musste Mutter Ruth geweckt worden sein. Als sie die Tür des Schlafzimmers öffnete, wurde auch sie erstochen. Vielleicht konnte sie noch einen Schuss aus einer Pistole abfeuern, die sie im Hause hatte. Vater Udi bemühte sich, die kleine Hadas mit seinem eigenen Körper zu schützen. Doch die Mörder töteten ihn und das drei Monate alte Baby in seinen Armen. Durch ein Wunder übersahen sie das Schlafzimmer des achtjährigen Roi und seines zweieinhalbjährigen Bruders Jischai. Um 23.15 Uhr meldete der Sicherheitszaun wieder einen Vorfall.
Dass es den beiden Terroristen gelungen war, unbemerkt zu kommen und wieder zu verschwinden, wird im Rückblick als schwerwiegendes Versagen der Sicherung der Siedlung bewertet. Insgesamt vier Sicherheitsringe mussten die Terroristen durchdringen, um ihren Anschlag auszuführen. Offensichtlich hatte die relative Ruhe der vergangenen Monate dazu beigetragen, dass dies so ohne weiteres möglich war. Hinzu kam, so einer der Sicherheitsbeauftragten der Siedler, dass es "an einem normalen Tag zwischen 20 und 200 Alarmmeldungen" des hoch empfindlichen elektronischen Zauns gibt: "Es ist ein Wunder, dass in diesem Fall überhaupt eine Streife zum Zaun kam."
Familie stammte aus geräumter Siedlung Netzarim
Udi und Ruthi Vogel waren im Spätsommer 2005 aus ihrem Haus in der Siedlung Netzarim, wenige Kilometer südlich von Gaza-Stadt, deportiert worden. Bis Anfang 2010 hatten sie in einem Wohncontainer in Ariel gewohnt, wo ihnen zwei weitere Kinder geboren wurden. Dann waren sie nach Itamar umgezogen, wo vor drei Monaten die kleine Hadas das Licht der Welt erblickte. Udi war Panzeroffizier der Reserve und ordinierter Rabbiner.
Sofort nach Bekanntwerden des Anschlags begannen israelische Sicherheitskräfte die Suche nach den Mördern. Sie errichteten Straßensperren, verhängten eine Ausgangssperre über die umliegenden arabischen Dörfer, Hubschrauber durchsuchten das bergige Gelände. In Razzien wurden Dutzende von Palästinensern festgenommen. Die Deutsche Presseagentur dpa verbreitete die Meldung: "Nach Angaben des israelischen Militärs wurde eine Militäraktion als Vergeltungsmaßnahme eingeleitet" – was ein israelischer Militärsprecher auf Anfrage (auf Deutsch) als "totalen Schwachsinn" bezeichnete. Weder wisse er, wer die Militärs seien, die so etwas angegeben hätten, noch sei eine Militäraktion geplant und schon gar nicht als "Vergeltungsmaßnahme".
Für die israelische Gesellschaft ist das Massaker von Itamar ein Schock, nicht zuletzt aufgrund der Brutalität, mit der es ausgeführt wurde. Altgediente Rundfunksprecher weinten bei Interviews mit Hinterbliebenen. 20.000 Menschen kamen am darauf folgenden Sonntagnachmittag zur Beerdigung der fünf Mitglieder der Familie Vogel nach Jerusalem. Wiederholt wurden Erinnerungen an den Pogrom von Kischinew geweckt. Im April 1903 waren dort ein Tag nach dem russischen Osterfest fast 50 Juden brutal ermordet worden. Premierminister Benjamin Netanjahu verurteilte das Massaker und forderte von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter Mahmud Abbas Hilfe bei der Aufklärung und Verhaftung der Terroristen. Die Aufforderung an die internationale Gemeinschaft, diesen Mord "scharf und uneingeschränkt" zu verurteilen, offenbart die Seelenlage vieler Israelis, die sich in ihrem Kampf gegen diese Art von Terror von der Welt schlicht alleingelassen fühlen.
Hetze bereitete Boden für Anschlag
Israelische Politiker weisen einstimmig auf eine Hauptursache für den unvermindert lodernden Hass auf den jüdischen Staat in der arabischen Bevölkerung: Die Hetze in den palästinensischen Moscheen, Schulen und offiziellen Medien. Terroristen werden als Helden und Vorbilder verehrt, Fußballspiele im Andenken an Selbstmordattentäter veranstaltet, an Familien von Terroristen werden Stipendien vergeben und Straßen und Plätze nach so genannten "Märtyrern" benannt. Noch einen Tag vor dem Massaker von Itamar meinte der Abbas-Berater und Untersekretär des Fatah-Revolutionsrates, Sabri Saidam, in einer Rede, die Waffen müssten gegen den Hauptfeind gerichtet und interne Differenzen beiseite gelegt werden. Just am Tag der Beerdigung der Vogel-Familie, wurde in El-Bireh bei Ramallah ein Platz nach Dalal al-Mughrabi benannt, die 1978 eines der blutigsten Attentate in der Geschichte Israels geleitet hatte. Im Zusammenhang mit der Entführung eines Busses wurden damals 35 Israelis ermordet und 71 verletzt.
In der Westbank stehen die Zeichen auf Sturm. Siedler und Militärs fürchten Nachahmer, und dass dieser spektakuläre Anschlag ein Dammbruch und Beginn einer neuen Terrorserie sein könnte. Politiker befürchten, religiöse Siedler könnten das Recht in die eigenen Hände nehmen, und Rache üben. Deshalb beschwor Regierungschef Netanjahu die Siedler, trotz des Schmerzes, das Gesetz nicht in die eigenen Hände zu nehmen. Trotzdem kam es am Rande des palästinensischen Dorfes Burin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. In Judäa – der südlichen Westbank – bewarfen jüdische Jugendliche palästinensische Fahrzeuge mit Steinen. An anderen Stellen blockierten Siedler die Straßen für arabische Fahrzeuge. In Hebron wurde ein Fahrzeug in Brand gesetzt.
Doch wie soll Israel angemessen und vor allem effektiv reagieren? Im Büro des Premierministers und im Außenministerium entbrannte kurz nach dem Anschlag eine heftige Diskussion darüber, ob die furchtbaren Bilder von den Opfern veröffentlicht werden sollten. Die Befürworter einer Veröffentlichung der furchtbaren Bilder von Kindern mit durchschnittener Kehle sind der Ansicht, dass nur so die Welt verstehen werde, "welchen Bestien sich die Bürger Israels gegenüber sehen". Während auf palästinensischer Seite die Veröffentlichung von Bildern von Toten und Verletzten kein Tabu ist, achtete Israel – abgesehen vom Fall des Mädchens Schalhevet Paz, das in den Armen seines Vaters in Hebron erschossen wurde – bislang die Würde der Betroffenen. Die Diskussion über die Einführung der Todesstrafe für Mörder ist in vollem Gange. Der Knessetabgeordnete Michael Ben Ari (Nationale Union) forderte eine Vertreibung der Einwohner des Dorfes, aus dem die Mörder kommen, und die Zerstörung des Dorfes.
In den vergangenen Monaten wurde die Frage des Siedlungsbaus vor allem auch in der internationalen Diskussion deutlich verschärft. Gemeinhin scheint die Gleichung "Hier Siedlungsbau – dort Terror" akzeptiert. So forderte Innenminister Eli Jischai (Schass) unmittelbar nach der Bluttat den Bau von mindestens 5.000 neuen Wohnungen, 1.000 für jedes Terroropfer. Vielleicht würde der palästinensischen Gesellschaft dadurch klar, dass Terroristen keine Helden, sondern diejenigen, die für den Landverlust verantwortlich sind?, so die Logik. Könnte man durch eine so aufgebaute Abschreckung vielleicht sogar Herr werden über die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen?, fragt man sich. Und schließlich: Könnte man durch einen gezielten Siedlungsbau als Reaktion auf tödliche Terroranschläge nicht auch diejenigen beruhigen, die nach Rache schreien? "Mehr Bauen ist die jüdische Rache am arabischen Terror", verkündete Oberrabbiner Jona Metzger auf der Beerdigung. "Der Schöpfer und nicht wir werden das vergossene Blut rächen." Deshalb genehmigte das israelische Kabinett den Bau von Hunderten neuer Häuser in den großen Siedlungsblöcken von Judäa und Samaria, die Israel in jedem Falle behalten möchte. "Sie morden, wir bauen", erklärte Netanjahu während eines Besuchs im Hause der Eltern von Ruth Vogel.
An einen Friedensprozess denkt bei dieser Stimmungslage kaum jemand. "Gedenke, mit wem wir’s zu tun haben!", mahnt der Kolumnist Gilad Scharon im hebräischen Massenblatt Jediot Achronot. Sein Kollege Chanoch Daum antwortet: "Mit blutrünstigen Psychopathen!" Siedlervertreter schäumen: "Immer wenn die Welt von einem Friedensplan spricht, müssen wir uns darauf einstellen, angegriffen zu werden. Alle Gespräche über einen Friedensprozess müssen sofort eingestellt werden!" Benni Katzover, Vorsitzender des Siedlerrates in Samaria, der selbst in Elon Moreh auf Sichtweite der Siedlung Itamar wohnt, meint: "Schwäche gegenüber dem Terror verstärkt diesen nur." Der Minister für öffentliche Diplomatie und Diaspora-Angelegenheiten, Juli Edelstein, interpretiert das Massaker von Itamar als Beweis dafür, dass es auf der anderen Seite keinen Partner gebe. Und der ehemalige Generalstabschef Mosche Ja´alon betonte auf der Beerdigungsfeier, dass angesichts dieser Lage jeder Vertrag mit den Palästinensern nicht das Papier wert sei, auf dem er gedruckt würde.
Palästinensische Gruppen distanzieren sich
In ersten Stellungnahmen verteidigten palästinensische Stimmen den Mord an der Familie Vogel als gerechtfertigte Rache für "die israelischen Verbrechen am palästinensischen Volk in der Westbank". "Nach internationalem Recht haben die palästinensischen Widerstandsgruppen jedes Recht, jeder Art von Besatzung des Landes Palästina Widerstand zu leisten", meinte die Webseite des militärischen Flügels der Hamas, der Issadin al-Kassam-Brigaden. Die politische Führung der Hamas ließ zudem verlauten, man unterstütze jede Aktion gegen Siedler in den besetzten Gebieten. Auf den Straßen von Rafah im südlichen Gazastreifen wurden der gelungene Anschlag gefeiert und Bonbons verteilt. Doch dann schien selbst die Führung der Islamisten zu bemerken, dass der Mord an der Familie Vogel außergewöhnlich brutal war. Ein Hamasführer in Damaskus meinte, man habe mit der Aktion nichts zu tun. Schließlich distanzierte sich die Hamas in Gaza und betonte, dass das Töten von Kindern nicht zu ihrer Taktik gehöre.
Die Teheraner "Fars News Agency" hatte im Internet die Nachricht verbreitet, eine Gruppe der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden habe die Verantwortung für den Anschlag übernommen. Diese Gruppe benenne sich nach dem ehemaligen Generalstabschef der Hisbollah, Imad Mughnijeh, der drei Jahre zuvor einem Bombenanschlag in Damaskus zum Opfer gefallen war. Die Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden gehören zur Fatah des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Doch auch die Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden bestritten nach wenigen Tagen jede Verbindung mit dem Massaker von Itamar. Man kämpfe für "Ehre und Freiheit", erklärte die Organisation, und habe früher schon mit Rücksicht auf Kinder auf die Durchführung von Operationen verzichtet.
Die "Palästinensischen Volkskomitees gegen die Mauer und israelische Siedlungen" brachten ihre "Traurigkeit und Sorge" über den "Tötungsvorfall in der Itamar Kolonialsiedlung" zum Ausdruck, erklärten diesen aber im gleichen Atemzug zu einem "Teil der Eskalation, die durch die Vorgehensweise der israelischen Besatzung verursacht" worden sei: "Diese Politik hat die Umstände für diese hinterhältige Aktion geschaffen." Auf Drängen des amerikanischen Präsidenten Obama verurteilte auch der palästinensische Präsident Mahmud Abbas "alle Gewaltakte gegen Zivilisten, unabhängig davon, wer sie ausführt oder welche Motive er hat". Es wäre das Ende seiner politischen Karriere, würden ihn die Amerikaner oder – noch schlimmer – die Israelis fallen lassen. Zuvor hatte sein Premier Salam Fajjad bereits wissen lassen, er sei "schon immer gegen Gewalt gewesen, vor allem auch gegen Gewalt, deren Opfer Palästinenser" seien.
Vorwurf der Inszenierung
In persönlichen Gesprächen behaupteten Palästinenser, sie seien zu einer solchen Tat überhaupt nicht fähig. Dann wurde der Verdacht geäußert, Siedler hätten das Ganze selbst inszeniert oder, so spekulierten palästinensische Medien, die Mörder seien Gastarbeiter aus Thailand gewesen. Ein paar Tage später drehte PA-Präsident Mahmud Abbas den Anklagespieß dann endgültig um und fragte, wie Israel eigentlich dazu komme, die Palästinenser zu verdächtigen, "bevor die Ermittler die Identität der Mörder festgestellt" hätten. Gleichzeitig war Abbas wichtig, "dass die Siedler täglich gegen Dörfer, Moscheen, Häuser und Ölbäume" vorgehen: "Die internationale Gemeinschaft und die israelische Gesellschaft muss von diesen Verbrechen wissen", meinte der palästinensische Präsident, "denn dies ist ein Verbrechen, genau wie jenes." Mittlerweile werfen palästinensische Medien dem israelischen Premierminister vor, er "tanze auf dem Blut von Kindern", um politische Ziele zu erreichen.