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Wiesenthal: Jäger und Gejagter

Er wurde bekannt als der "Nazi-Jäger", als kompromissloser Kämpfer auf der Suche nach Verbrechern der NS-Zeit. Doch nach Ansicht des israelischen Historikers Tom Segev war Simon Wiesenthal selbst ein Gejagter, getrieben von dem Wunsch, die Verantwortlichen des Holocaust vor Gericht zu bringen - und von dem Schuldgefühl, das wie er viele Überlebende der Judenverfolgung empfanden.

"Er, der zeitlebens bemüht war, Unschuldige vor einer Bestrafung zu bewahren, bestrafte sich selbst für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte", schreibt Segev in seiner neuen Wiesenthal-Biographie. Und der "Zeit" sagte er in einem Interview: "Alle nannten ihn einen Jäger; tatsächlich war er der Gejagte, den die Schrecken der Vergangenheit verfolgten. Ich glaube, zu einem gewissen Grad hat er sich selbst bestrafen wollen. Dafür, dass er überlebt hatte."
Simon Wiesenthal wurde am 31. Dezember 1908 als Sohn jüdischer Kaufleute in Buczacz nahe der heute ukrainischen Stadt Lviv (Lemberg) geboren. Das Gebiet gehörte damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. 1936 heiratete er seine Jugendfreundin Cyla. Während der NS-Zeit wurde er von seiner Frau getrennt und überlebte mehrere Arbeits- und Konzentrationslager. Er verlor 89 Verwandte durch die Judenverfolgung. Auch Cyla hielt er für tot. Doch sie fanden sich wieder und bekamen 1946 eine Tochter, Paulinka, die heute in Israel lebt.
Kaum war er von den Amerikanern aus dem österreichischen KZ Mauthausen befreit worden, legte Wiesenthal schon eine erste Liste mit Kriegsverbrechern an. Fast bis zum Ende seines Lebens sollte er Namen aus allen möglichen Quellen sammeln. Besonders besessen war er von der Jagd nach Adolf Eichmann. Und so schildert Segev die Enttäuschung, wenn Wiesenthal israelischen oder anderen Behörden einen Hinweis auf Eichmanns möglichen Aufenthaltsort gab und keine Reaktion erhielt. Er selbst war bereits 1949 kurz davor, den SS-Obersturmbannführer in einer österreichischen Ortschaft festzunehmen. Doch dieser wurde gewarnt und floh nach Argentinien, wo ihn der Mossad auch dank Wiesenthals Hinweisen aufspürte. Weniger erfolgreich war hingegen die Suche nach anderen Nazis, wie dem KZ-Arzt Josef Mengele, der 1979 in Brasilien ertrank.
Neben der Jagd nach Naziverbrechern nehmen öffentliche Auseinandersetzungen mit Prominenten einen großen Raum in der Biographie ein. Segev beschreibt Wiesenthal als herrschsüchtig. Mit dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky trug der Zeitzeuge über Jahre hinweg einen Streit aus. "Da stießen zwei gewaltige jüdische Egos aufeinander", sagte der Autor gegenüber der "Zeit". "Diese Fehde war vermutlich unausweichlich. Das provinzielle Nachkriegs-Wien war für beide nicht groß genug."
Außerdem geriet der "Nazi-Jäger" mit dem Auschwitz-Überlebenden Elie Wiesel aneinander. Die beiden konkurrierten um den Friedensnobelpreis 1986 und veranstalteten einen regelrechten "Wahlkampf". Wiesenthal rechnete schließlich damit, dass entweder alle beide oder nur er die Auszeichnung erhalten werde. Dass Wiesel als alleiniger Preisträger bekannt gegeben wurde, habe ihn tief getroffen, schreibt Segev.
So groß Wiesenthals Misstrauen nach den Erlebnissen der Verfolgung war – er wies immer auf die "anständigen Deutschen" der NS-Zeit hin. Zu ihnen gehörten seine Aufseher in einem Arbeitslager, die ihn gut behandelt hätten. Segev schreibt: "Es gebe keine ‚Kollektivschuld‘, verkündete er immer wieder, jeder Mensch sei nur nach seinen eigenen Taten zu beurteilen."
Einen weiteren wichtigen Kampf führte Wiesenthal gegen die Verjährung von Naziverbrechen. Dafür bat er zahlreiche Prominente um Hilfe. Segev weist darauf hin, dass auch "ein Theologieprofessor namens Joseph Alois Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI." dieses Anliegen unterstützte. Die Briefe übergab Wiesenthal an die Justizminister Deutschlands und Österreichs, außerdem veröffentlichte er sie in Buchform.
Der Autor Segev hat zahlreiche Quellen ausgewertet, unter anderem aus Wiesenthals Dokumentationszentrum in Wien. Entstanden ist ein spannendes Buch, das viele Aspekte eines widersprüchlichen Charakters erfasst und einem Mann ein Denkmal setzt, der nach unbeschreiblich furchtbaren Erfahrungen nicht nach Rache strebte, sondern nach Gerechtigkeit.
Im Alter von 97 Jahren starb Simon Wiesenthal am 20. September 2005 in Wien und wurde im israelischen Herzlija bestattet. "Ich denke, er wird als das Gewissen des Holocaust in Erinnerung bleiben", sagte Rabbi Marvin Hier vom Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles kurz nach seinem Tod. "Er war dazu bestimmt, die Täter des größten Verbrechens vor Gericht zu bringen." Und Segev bilanziert: "Als unermüdlicher Kämpfer gegen das Böse und zentrale Gestalt im Kampf für die Menschenrechte gelang es Wiesenthal, sich zu einer Person der Zeitgeschichte zu machen."
Tom Segev, Simon Wiesenthal. Die Biographie, Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Siedler, 576 Seiten, EUR 29,95, ISBN: 978-3-88680-858-8

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