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Buchbesprechung: „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld“

Als Botschafter Israels in Deutschland wurde er "zum meistgerügten Botschafter des Staates Israel", weil er seine Meinung kaum hinter dem Berg zu halten vermochte. Das betont Avi Primor selbst (S. 10) und darauf ist er stolz. Jetzt hat sich der 1935 in Tel Aviv geborene Politologe mit einem neuen Buch zu Wort gemeldet.

Unter dem Titel „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld“ betrachtet er, unterstützt von der Journalistin Christiane von Korff, auf 309 Seiten „Deutsch-jüdische Missverständnisse“. Genauer genommen waren die beiden deutschen Klischees und Vorurteilen über „die Juden“ im Allgemeinen und „die Israelis“ im Besonderen auf der Spur. Jüdische Missverständnisse im Blick auf die Deutschen hat das Buch keine vorzuweisen.

Die Macht der Juden – in der Welt, in den Medien, in Amerika und vor allem natürlich im Finanzwesen – und wie sie diese mit Auschwitzkeule und Auserwähltsein zu erhalten suchen, wird genauso beleuchtet, wie die Vorwürfe, die Juden hätten Jesus ermordet und den Bolschewismus erfunden. Die ewigen Fragen nach der neuen Antisemitismuswelle oder einer Lösung des Nahostkonflikts dürfen im Buch des Ex-Botschafters natürlich nicht fehlen.

Klischees aufgegriffen

Primors Antworten sind geprägt von einem weiten Horizont und einem weiten Herzen – ganz besonders für die Deutschen -, aber auch von seinen eigenen Stereotypen. Dominant sind da die für säkulare Israelis so typischen Vorurteile gegenüber Siedlern, Religiösen und Orthodoxen und eine gewisse, eher sympathisch anmutende Blauäugigkeit beim Blick auf die arabische Welt. Das Buch ist lesenswert, weil Avi Primor seinem Leser nicht nur kritisch-liebevoll die eigene Beziehung zu Deutschland vor Augen führt, sondern auch einen ausführlichen Blick in Herz und Seele des säkularen und politisch links gerichteten Teils der israelischen Gesellschaft gewährt.

Das Buch will ein „Plädoyer gegen falsche Rücksichtnahmen im Verhältnis von Deutschen und Juden“ (S. 11) sein. Deshalb „erlaubt“ er Deutschen Kritik an Israel, nimmt aber auch deren Schlussstrichwünsche und Reparationsgejammer mit Tatsachen aufs Korn: „Der Überlebende eines Konzentrationslagers mit anerkannter Invalidität bekam weniger Entschädigung als ein SS-Wächter desselben Lagers mit gleichem Behinderungsgrad“ (S. 123). Zur Frage der Israel-kritischen Berichterstattung, die außerhalb Deutschlands oft sehr viel herber ausfällt, betont Primor gleich zwei Mal (S. 49 und 177), „dass die meisten Auslandskorrespondenten in Israel Juden sind, mit Ausnahme der deutschen Journalisten“ – was zu überprüfen wäre.

Überhaupt geht er mit gängigen Klischees wenig zimperlich um. So konstatiert er zum Mythos der jüdischen Lobby in Amerika: „Die amerikanisch-jüdischen Hollywoodproduzenten waren so sehr amerikanische Patrioten, dass der Massenmord an den europäischen Juden und die qualvolle Mühsal derer, die ihn überlebten, keinerlei Relevanz hatten“ (S. 47). Der Ansicht, Israel hänge am Tropf der USA, hält er entgegen, der jüdische Staat habe „keine politische Unterstützung oder nennenswerte Lobbyarbeit der amerikanischen Juden und überhaupt keine Unterstützung durch eine US-Regierung von 1948, der Entstehung des unabhängigen Staates Israel, bis in die 1960er-Jahre“ erfahren (S. 55). In der Zeit zwischen 1948 und 1967 hätten die USA „politische und diplomatische Unterstützung nur sehr bedingt gegeben, wirtschaftliche und militärische Hilfe jedoch gänzlich verweigert“ (S. 56). Und aktuell sollte nicht vergessen werden, dass die „jährlich 2,6 Milliarden Dollar Auslandshilfe“ aus den USA „nur auf etwas mehr als ein Prozent des israelischen Bruttosozialprodukts“ kommen (S. 57).

„Alle Völker fühlten sich irgendwann erwählt“

Ganz selbstverständlich stellt sich die Frage nach der Erwählung Israels. Primor weiß: „Jude zu sein hatte doch immer nur Leiden bedeutet“ (S. 216). Er erklärt seinen nicht-jüdischen Lesern, dass „die Idee vom ‚auserwählten Volk‘ niemals einen rassistischen Bezug“ hatte (S. 191). „Die Juden wurden auserwählt, um der Welt eine bessere Lebensweise aufzuzeigen, nicht um zu zeigen, dass sie besser seien“ (S. 192). Seitenlang zeigt Primor, dass sich fast alle Völker im Laufe der Geschichte irgendwann einmal erwählt fühlten. Wunsch der Juden aber war es, „als normal betrachtet zu werden, mit denselben Vorzügen und Fehlern, die man bei allen Menschen und bei allen Völkern finden kann“ (S. 160). Das ging so weit, dass deutsche Juden dachten: „Nicht die Juden, sondern die Deutschen sind das auserwählte Volk“ (S. 194).

Primor gibt einen einzigartigen Einblick in das Seelenleben der nach der Schoah geborenen Generation von Israelis, zu der er selbst gehört: „Wir schämten uns für unsere ermordeten Brüder und Schwestern“ (S. 12), weil sie die Frage verfolgte, „warum die europäischen Juden keinen Widerstand geleistet hatten“ (S. 162), warum sie sich „willig wie die Lämmer zur Schlachtbank hatten führen lassen“ (S. 12). „Aber weder vor noch während, noch nach dem Holocaust waren Juden durch das ihnen angetane Leid geläuterte Wesen – und sie sind es bis heute nicht“ (S. 159). „Die Ambition, das Gewissen der Menschheit zu sein, hegen die meisten Juden seit dem Holocaust weniger denn je“ (S. 171).

Wenn es um die Frage der Lösung des Nahostkonflikts geht, hat der israelische Ex-Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland einiges für seine deutschen Leser Nachdenkenswerte zu liefern: „Die israelische Besatzung hat andere Ursachen und Gründe als kolonialistische Ambitionen“ (S. 173). Leidenschaftlich betont er: „Wir Israelis können und dürfen nicht über eine andere Bevölkerung herrschen“ (S. 219), um dann festzustellen: „Die Mehrheit der Israelis wünscht eine Trennung von den Palästinensern. Wie die Umsetzung der Trennung aussieht, ist ihnen gleichgültig.“ (S. 220). An einem Punkt bleibt der friedensbewegte Botschafter aber knallhart: Die Palästinenser sollen in ein Land ihres Wunsches einwandern dürfen, „nicht aber in den Staat Israel“ (S. 52).

„Der Hochmut, der Stolz, den Sie heute an den Israelis beobachten und der Ihnen unangenehm vorkommen muss“, greift Primor eine gängige Auffassung von Deutschen gegenüber Israelis auf und zitiert den Schriftsteller Amos Oz: „ist rein oberflächlich, eine künstliche Übertreibung. Angst ist die große Motivation unseres Volkes“ (S. 276-277). Er fleht um Verständnis: „Wir sind der einzige Staat auf Erden, der noch nie Frieden erlebt hat und für den Vernichtungsdrohungen zum Alltag gehören.“ Deshalb ist der Gedanke „in der Welt isoliert zu sein“, so Primor, „eine uralte Angst der Juden und hat gewisse Verhärtungen und Verkrampfungen zur Folge“ (S. 277). Aus Sicht des Politologen Primor ist „das Sicherheitsbedürfnis“ der Israelis „ein unausweichliches politisches Faktum“ (S. 278), das jeder in Betracht ziehen muss, dem eine Lösung des Nahostkonflikts am Herzen liegt.

Naivität gegenüber Arabern

Diese realitätsnahe Analyse des israelischen Volkes kombiniert er aber mit einem gelegentlich naiv anmutenden Glauben an den Friedenswillen des einfachen arabischen Volkes. Verzweifelt müht er sich, die religiöse Komponente des Nahostkonflikts wegzureden. Dabei mag Primor Recht haben, wenn er für die israelische Seite feststellt: „Die Ultranationalisten, die von göttlicher Verheißung sprechen und das Westjordanland als biblische Heimat der Juden sehen, auf die wir niemals verzichten dürfen, befinden sich in der Minderheit“ (S. 73). Wenn er dann aber gleichzeitig meint, dass bei der anti-israelischen Propaganda der Araber „keine Hakenkreuze oder andere Nazisymbole benutzt“ (S. 43) würden, bekennt er dadurch, dass er zumindest in jüngster Zeit kaum auf der arabischen Seite unterwegs war.

Die Ansicht, Barack Obama habe mit seiner Kairoer Rede vom Juni 2009 „die Welt und besonders die islamische Welt beeindruckt“ (S. 71), entbehrt genauso eines handfesten Beleges, wie die Behauptung, die Hamas habe „im Gegensatz zur Al Qaida gezielte und dringende nationale Interessen“ (S. 74). Wie sehr sich Primor windet, die Gewaltakzeptanz in der palästinensischen Gesellschaft klein zu reden, wird deutlich, wenn er von „potenziellen Extremisten“ schreibt, deren Angriffe die israelischen Dozenten der Al-Quds-Universität während des Gaza-Krieges zu fürchten hatten (S. 287). Mit der Behauptung schließlich, „die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung“ würde eine „internationale Armee, die sie von der Besatzung erlöst, mit Begeisterung begrüßen“ (S. 76), erweist sich der Visionär als Träumer, der spätestens dann zum Albtraum erwachen würde, müsste diese internationale Armee tatsächlich „in Kooperation mit der palästinensischen Regierung für Sicherheit sorgen, wenn nötig mit Gewalt“ (S. 75).

Avi Primor und Christiane von Korff, „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld. Deutsch-jüdische Missverständnisse“, Piper, München Zürich, 2010

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