Auf den ersten Blick sieht der Grenzübergang Eres aus wie ein modernes Flugzeugterminal: Er ist einer der wenigen Übergänge in den Gazastreifen. Vor dem Gebäude wachsen Mandarinenbäume. Innen ist wenig Betrieb, denn nach Gaza zu reisen, ist schwierig. Auch für Journalisten.
„Wenn wir die Grenze abschotten wollten, hätten wir nicht so viel Geld für die Terminals ausgegeben“, heißt es vom israelischen Pressebüro. Rund 36 Millionen Euro hat Israel 2006 in den Bau der Anlage investiert. Trotzdem lässt sich die Grenze nicht einfach überqueren. Nach einer Gepäck- und Passkontrolle geht es durch einen knapp 800 Meter langen Gang auf die andere Seite. Dort warten die UN-Mitarbeiter mit einem gepanzerten Bus auf uns. Sie dürfen sich hier nur mit Autos bewegen. Für den Gazastreifen gelten besondere Reisewarnungen. Viele Mitarbeiter von internationalen Organisationen oder diplomatischen Vertretungen fahren überhaupt nicht, nur für wenige Stunden oder nur in bestimmte Gebiete nach Gaza.
Den Landstrich hatte ich mir immer als großes Elend vorgestellt. Zunächst wirkt er wie viele arabische Städte dieser Welt: laut, nicht besonders sauber, einfach. Mich überrascht, wie viele Menschen ich treffe, die, statt zu klagen, versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen.
Unterricht im Dreischichtbetrieb
Wir besuchen eine von über 250 Schulen, die das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) im Gazastreifen unterhält. Während des letzten Gaza-Konflikts 2014 war die Mädchenschule zugleich Schutzraum für die Bevölkerung. Von den fast 1,8 Millionen Einwohnern werden heute 1,3 Millionen als palästinensische Flüchtlinge gezählt. Rund die Hälfte der Bewohner ist unter 25 Jahre alt. Das bedeutet auch jedes Jahr 10.000 neue Schüler, erklärt ein Schulleiter. Deshalb wird jetzt im Dreischichtbetrieb unterrichtet.
Wir treffen die Schülerinnen des Schulparlaments und bekommen ein Anti-Gewalt-Training vorgeführt. Dann plötzlich wird zum Aufbruch gedrängt, wir sollen eilig das Gelände verlassen. Doch zu spät: Binnen Sekunden verwandelt sich der menschenleere Schulhof in ein lautes Gewusel. Mit Trillerpfeifen versuchen die UN-Mitarbeiter, den Strom der weggehenden und ankommenden Mädchen zu lenken. Jetzt ein falscher Tritt, und eine Massenpanik könnte ausbrechen. Nur mühsam gelingt es unserem Fahrer, das Auto durch die Menschenmassen zu lenken.
Wir erreichen das UNRWA-Lebensmittel-Verteilzentrum. 90 Prozent der Flüchtlinge seien auf Lebensmittelrationen angewiesen, erklärt ein Mitarbeiter. Dabei mangelt es in Gaza nicht an Nahrung, sondern an Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.
Gute Ausbildung, keine Jobs
Der Weltbank zufolge hat Gaza die höchste Arbeitslosenquote weltweit. Vor allem für junge Leute ist es ein großes Problem. Umso glücklicher kann sich schätzen, wer beschäftigt ist – so wie Ahmed. In einem Berufsbildungszentrum der UN kann der 18-Jährige eine Lehre zum Elektriker machen. „Ich werde alles tun, um eine Arbeit zu finden, um meiner Familie zu helfen“, sagt er.
Die jungen Leute von der Straße wegzuholen, sei die große Aufgabe, hören wir immer wieder. „Die Hauptbefürchtung der Menschen hier ist nicht ein neuer Krieg mit Israel, sondern dass sich junge Menschen in ihrer Hoffnungslosigkeit radikalisieren“, erzählt Matthias Schmale, Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Gaza. Anfang November 2017 forderte der für den Gazastreifen zuständige General der israelischen Streitkräfte, Joav Mordechai, eine Art Marshallplan. Wenn es keine positiven wirtschaftlichen Veränderungen gäbe, würde auch Israel bald die Konsequenzen zu spüren bekommen, lautet seine Begründung.
Bis kurz vor der Reise ist nicht klar, in welchem Hotel wir übernachten werden. Es gibt nicht viele Hotels, die westlichen Sicherheitsstandards entsprechen. Unseres liegt direkt am Strand. Der ist von weitem hübsch anzusehen, doch im Meer zu schwimmen, kann lebensgefährlich sein. Täglich fließen hier hundert Millionen Liter kaum oder nur wenig geklärtes Abwasser ins Mittelmeer. In der Schule hatte ein Mädchen berichtet, wie ihr Bruder nach einem Bad im Meer an einer Infektion verstarb.
Eine Kläranlage soll mit deutscher Unterstützung gebaut werden, berichtet ein Mitarbeiter der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Doch die dafür benötigten Materialien steckten noch beim israelischen Zoll zur Prüfung. Groß sei die Angst der Israelis, die Teile könnten für den Bau von Tunneln oder Bomben verwendet werden.
Begegnung mit Miss Television
Beim Abendessen treffe ich Hind Chudary. „Ich bin Muslima, aber ich mag kein Kopftuch“, erzählt die 22-Jährige. Natürlich werde sie immer wieder aufgefordert, eines zu tragen. Um studieren zu können, habe sie es auch gemacht. Heute sei sie eine erfolgreiche Journalistin, das mache es einfacher, erzählt sie. Aufgewachsen mit acht Brüdern habe sie früh gelernt, sich durchzusetzen. Jetzt berichtet sie für Kuwait TV aus Gaza. Ihr Traum: Vorbild sein für die Frauen ihrer Generation. Das Internet sei für die jungen Leute das Tor zur Welt. Die meisten Gaza-Bewohner haben den Küstenstreifen noch nie verlassen.
Ob sie gern Israel, die andere Seite kennenlernen wolle, möchte ich wissen. „Nein“, lautet ihre eindeutige Antwort. Sie habe schon Einladungen bekommen, aber was soll sie da? Drei Kriege habe sie schon miterlebt, bis heute könne sie den Moment nicht vergessen, als sie als kleines Mädchen das erste Mal Bomben hörte.
IT – Branche: Gazas Hoffnung?
Was wir in unserem schicken Hotel nicht mitbekommen, ist der tägliche Stromausfall. Das Hotel wird mit Generatoren versorgt. Generatoren sind es auch, die Gaza Sky Geeks am Leben erhalten. Die Organisation fördert junge, gut ausgebildete IT-Spezialisten. Dazu bieten sie Existenzgründerprogramme an, stellen Räumlichkeiten für Arbeitsplätze zur Verfügung, und bringen sie mit Mentoren von großen Internetfirmen wie Google oder Uber in Kontakt.
Finanziert wird Gaza Sky Geeks mit Hilfe der US-Hilfsorganisation Mercy Corps, Google und der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung. „Wenn die Menschen Gaza schon nicht verlassen können, das Internet kann jede Grenze überwinden“, lautet das Credo von Ryan Sturgill, Direktor von Gaza Sky Geeks. Weltweit gebe es einen Mangel an Softwareentwicklern, doch in Gaza könne man damit überdurchschnittlich viel verdienen, so Sturgill.
Ob sie auch Kontakte zu Internet-Start-ups in Israel haben, möchte ich wissen. „Wenig“, meint Sturgill, ihr Fokus liege auf der arabischen Welt. Aber sie würden sehr davon profitieren, dass die Trainer der großen internationalen Internetfirmen, wenn sie in Tel Aviv sind, auch nach Gaza kommen.
Zurück nach Israel
Der Grenzübergang Eres hat feste Öffnungszeiten, so müssen wir aufpassen, rechtzeitig zurückzukommen. Kaum angekommen, nimmt uns ein arabischer Grenzer die Pässe ab. Das Gepäck wird auf einem Wagen verstaut. Dann geht es wieder den 800 Meter langen Gang zurück. In der Abfertigungshalle angekommen, müssen wir unser Gepäck ausladen. Elektronische Geräte in eine Kiste, das restliche Gepäck in die andere. Es geht durch mehrere Türen zu einem Ganzköperscanner. Ich habe vergessen, einen schmalen Gürtel auszuziehen, und muss den ganzen Weg zurück. Eine Stimme aus dem Hintergrund gibt mir Anweisungen. Erst später sehe ich, woher sie kommt: Das Terminal ist so gebaut, dass Sicherheitsleute die Abfertigung von einem höheren Stockwerk aus genau beobachten können.
„Erholen Sie sich gut in Tel Aviv“, ruft mir die Schalterbeamtin beim Hinausgehen zu. Dann bekomme ich meinen durchwühlten Koffer. In diesem Moment erhalten die Grenzbeamten eine SMS über eine Warn-App der Armee: „Vier Geschosse sind aus dem Gazastreifen Richtung Israel unterwegs.“ Am Himmel ist eine Drohne zu sehen. Mehr nicht. Als wir eine Stunde später in Tel Aviv ankommen, berichten israelische Medien, die Terrorgruppe Islamischer Dschihad habe Raketen in Richtung Israel abgefeuert. Israel habe zurückgeschossen.
Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 1/2018 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online.
Von: Iris Völlnagel