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20 Jahre nach dem 11. September träumt der Westen von moderaten Taliban

Zwei Jahrzehnte nach Beginn des amerikanischen Militäreinsatzes in Afghanistan und erbitterten Kämpfen gegen den Terror werden die Taliban plötzlich als mögliche Friedensgaranten gehandelt. Diese Politik ist nicht zuletzt gefährlich für Israel.
Erneute Taliban-Herrschaft: Die kosmetischen Veränderungen täuschen

Die Geldgeber und Verhandlungspartner in Form von EU, USA und UNO verfolgen mit Spannung die Ereignisse in und um Kabul. Dass die Taliban ihren Herrschaftsbereich nach dem Abzug aller westlichen Truppen ausbauen würden, war abzusehen. Die blitzartige, kampflose und umfassende Machtübernahme kam jedoch für viele überraschend. Ebenso überraschend war, wie „moderat“ sich die Taliban in ihren ersten öffentlichen Auftritten gaben: Frauen sollten sich zwar verschleiern, aber arbeiten und zur Schule gehen dürfen. Beamte der vorherigen Regierung hätten keine Verfolgung zu befürchten, ebenso religiöse und ethnische Minderheiten.

Würden sich diese Versprechungen als tragfähig erweisen, würde zum ersten Mal in der Geschichte der Beweis erbracht, dass das islamische Recht, die Scharia, als Grundlage eines Staates mit allgemeinen Menschenrechten vereinbar ist. Darauf hoffen viele im Westen, um Wirtschaftsbeziehungen pflegen zu können und internationale Hilfen nicht einstellen zu müssen.

Doch das neue, freundliche Gesicht der Taliban widerspricht ihren fundamentalen Glaubenssätzen, nach denen Frauen und Andersgläubige weniger Rechte haben und schnell ihr Recht auf Leben verwirken können. Unter der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 standen Frauen unter Hausarrest. Selbst zum Arztbesuch durften sie nur mit männlicher Begleitung gehen. Aber da sie nicht arbeiten durften, auch nicht im medizinischen Bereich, und Männer keine Frauen berühren durften, war eine Behandlung quasi ausgeschlossen und sie starben an den einfachsten Krankheiten.

Der 11. September hat sich seit 2001 bis heute jährlich wiederholt. Im Schnitt ist die durchschnittliche Zahl an Terror-Opfern in Afghanistan pro Jahr sogar höher gewesen. Nur waren die Ermordeten keine Amerikaner, sondern afghanische Zivilisten – tausende jedes Jahr, Tendenz eher steigend als abnehmend. Aus taktischen Gründen versuchen nun die Terroristen, ihre blutdurstigen Rekruten solange stillzuhalten, bis ihr „Islamisches Emirat Afghanistan“ und sie als Herrscher offiziell anerkannt werden. Aber schon jetzt bröckelt die Fassade nur allzu offensichtlich. Da werden Listen geführt und Journalisten aufgespürt. Frauen werden wieder aus dem öffentlichen Leben verbannt. Eine soll hingerichtet worden sein, weil sie nach dem Gusto der Gotteskrieger nicht gut gekocht hatte.

Verhandeln um jeden Preis

Trotz solcher Berichte will der demokratische Westen scheinbar unbedingt mit den Taliban verhandeln. Dazu behilft er sich mit dem Konstrukt eines Kampfes zwischen radikalen und „gemäßigten“ Terroristen – so wie er im Iran an ein Tauziehen zwischen „Hardlinern“ und „Reformern“ glaubt. Jahrzehntelange Worte, Taten und zugrundeliegende Ideologien werden einfach ausgeblendet. Um nach dem Abzug der amerikanischen Truppen einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten, wurde der sogenannte „Doha-Prozess“ in Gang gesetzt – der Name bezieht sich auf die katarische Hauptstadt. Die damalige Regierung Afghanistans sollte sich mit den Taliban arrangieren.

Zuvor hatten die USA am 29. Februar 2020 ein Abkommen mit dem Titel „Bringing Peace to Afghanistan“ (Frieden nach Afghanistan bringen) unterzeichnet. Und zwar mit den Taliban. Um als Friedenspartner anerkannt zu werden, sollten die Taliban sich unter anderem von nicht näher genannten „terroristischen Gruppen“ distanzieren. Nicht etwa von Terror. Auch nicht vom Handel mit entführten, versklavten jungen Frauen. Oder vom Völkermord an der afghanischen Volksgruppe Hasara. Das Abkommen wurde parallel zu Mord, Verstümmelung und Menschenhandel unterzeichnet, ausdrücklich unterstützt vom deutschen Auswärtigen Amt.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) zeigte sich noch im Juni 2021 zuversichtlich, dass die Taliban an Verhandlungen nicht vorbeikommen würden. Sie müssten „zur Kenntnis nehmen“, erklärte Maas, „dass es kein ‚Zurück ins Jahr 2001‘ geben wird.“ Dagegen stände eine selbstbewusste afghanische Zivilgesellschaft. Nur besteht diese Zivilgesellschaft zu über 60 Prozent aus verarmten, verängstigten Analphabeten. Etwa doppelt so viele Frauen wie Männer können nicht lesen und schreiben. Sie sind ungefähr so selbstbewusst wie die ebenso schlecht bezahlte wie ernährte afghanische Armee, die nach dem Abzug der US-Truppen nicht einmal mehr eine Luftwaffe besaß. Afghanische Zivilisten werden sicher nicht den Taliban die Stirn bieten. Waren sie doch jahrelang das Hauptangriffsziel der Terroristen. Regelmäßig waren die Hälfte bis drei Viertel der afghanischen Terror-Opfer Zivilisten.

Nein – wenn jemand die afghanische Zivilbevölkerung vor einer drohenden Terrorherrschaft schützen könnte, dann wäre es der demokratische Westen. Der müsste dazu nicht nur klare Kante gegen die Taliban zeigen, sondern auch gegen Pakistan, von wo die Taliban existenzielle Unterstützung erhalten. Nur gilt Pakistan gleichzeitig als unabkömmlicher NATO-Partner, „insbesondere in Bezug auf Afghanistan, wo ein gemeinsames Interesse an der Bekämpfung des Extremismus“ bestehe. Der Widerspruch könnte größer kaum sein. Die Formulierung entstammt dem Einleitungssatz über die Beziehungen zu Pakistan auf der offiziellen Webseite der NATO. Pakistan hat zwar bis 2014 den ISAF-Truppen Transit-Rechte gewährt. Sonst hätten sie sich einen anderen Nachschubweg für ihren Afghanistan-Einsatz suchen müssen. Aber hätte Pakistan den Taliban nicht mit Geld, Ausbildung, Rückzugsmöglichkeiten und sogar tausenden pakistanischen Soldaten geholfen, hätte es den Einsatz vielleicht gar nicht gegeben.

Zwei Regierungen in Afghanistan

Heute sind die Taliban zweifellos die stärkste Kraft in Afghanistan und somit „ernstzunehmen“. Sie arbeiten auf Hochtouren daran, sich als alternativlos darzustellen. Die blutigen Anschläge der Terror-Organisation „Islamischer Staat“ am Flughafen in Kabul im August kamen in dieser Hinsicht nicht ungelegen. Zum einen finden die Taliban im IS eine Terror-Organisation, von der sie sich „distanzieren“ können, zum anderen können sie in dessen Schatten ihren Nimbus der „moderaten“ Terroristen stärken.

Fast wäre die Anerkennung des Emirats eine Leichtigkeit, säße da nicht noch ein legitimer Nachfolger des geflüchteten Präsidenten im Pandschir-Tal nördlich von Kabul. Dort organisiert der afghanische Vize Amrullah Saleh mit den verbliebenen Soldaten den Widerstand gegen die Taliban. In einem handschriftlichen Brief an den „Spiegel“ bezeichnete er den Doha-Prozess als den „Anfang vom Ende“. Das Emirat der Taliban werde er niemals anerkennen. Er steht einer Übermacht gegenüber, aber „Patrioten“ seien bereit, „das höchste Opfer zu bringen“. An den Westen gewandt weist er darauf hin, dass es „immer noch eine Lösung“ gebe: „Drohen Sie Pakistan mit konkreten Sanktionen, fordern Sie eine politische Lösung. Erkennen Sie die legitime Herrschaft des nationalen Widerstands in Pandschir an und bieten Sie diesem Ihre moralische und politische Unterstützung an.“ Es ist allzu unwahrscheinlich, dass es zu diesem Schritt kommen wird. Die kampfeswillige, aber schwache Opposition gegen den Terror empfängt normalerweise keine nennenswerte Unterstützung. Nicht die Kurden gegen den IS, nicht die iranischen Demonstranten gegen das Mullah-Regime, nicht die frustrierten Palästinenser gegen die Hamas, und auch nicht die neue, legitime afghanische Regierung gegen die Taliban.

Das derzeit letzte Lebenszeichen von Saleh ist eine Videobotschaft vom 3. September. Er dementierte darin Nachrichten, laut denen die Taliban das Pandschir-Tal restlos eingenommen hätten und er nach Tadschikistan geflohen sei. Die Situation sei schwierig. Die Taliban hätten Telefon und Strom abgestellt und das Tal von der Versorgung abgeschnitten. Sie würden Männer aus Pandschir über die Minenfelder führen und als „Räumwerkzeuge“ einsetzen. Aber der Nationale Widerstand werde sich dem Terror nicht beugen.

Derweil haben die Taliban am Dienstag ihre neue Regierung vorgestellt. Ganz an der Spitze stehen Top-Terroristen. Die USA habe Millionensummen auf sie ausgesetzt. Ein Sprecher der Taliban ließ verlautbaren, sie seien gerne bereit, sogar mit Amerika zu sprechen. Die Amerikaner seien willkommen, wenn sie in Afghanistan Wiederaufbau-Hilfe leisten wollten. Die USA zeigen sich nicht gänzlich abgeneigt. Ein Sprecher des Außenministeriums teilte mit, die Regierung werde die Taliban an ihren Taten, nicht ihren Worten messen. Außerdem bedauere sie, dass keine Frauen im Kabinett der Terroristen säßen – als würde eine Frauenquote im Terror-Regime einen Unterschied machen. Egal, wie viele Kämpfer noch im Pandschir-Tal ausharren: Sie werden bald aufgerieben sein. Dann steht den Verhandlungen nichts mehr im Wege.

Antisemitismus ausgeblendet

Die Ereignisse in Afghanistan bestärken Israel darin, die Kontrolle über das Westjordanland zu behalten und sich in Fragen der Grenzsicherung nicht auf internationale Truppen zu verlassen. Sie bestärken aber auch die Hamas und andere Terrorgruppen in der Hoffnung, dass sich Islamismus gegen westliche Kräfte durchsetzen kann. Und genau das ist die fatale Botschaft des Westens an den Islamismus: „Unser Selbstschutz geht vor. Wir bekämpfen den Terror nur im eigenen Land. Solange ihr uns in Ruhe lasst, könnt ihr machen, was ihr wollt. Wir behandeln euch dann als ernstzunehmenden Global Player und als Gesprächspartner.“

Die westliche Welt ist weder hilflos noch ahnungslos. Der Terror ist für sie schlichtweg bedeutungslos, solange er nicht sie selbst betrifft. Diese Rechnung wird am Ende nicht aufgehen. Nur eine finanz- und logistikstarke Gruppe kann einen Anschlag wie 9/11 ausführen. Und sie wird es auch. Dabei geht es längst nicht nur um die Taliban in Afghanistan. Es ist das gleiche Prinzip bei der Hisbollah im Libanon, den Revolutionsgarden im Iran, der Hamas im Gazastreifen und weniger publik auch im Westjordanland. Terroristen schwingen sich zu Staatsoberhäuptern empor und werden dort international anerkannt.

Selbst wenn die Hamas und die Hisbollah ganz oder teilweise als Terrorgruppen eingestuft werden, bleiben Hintertüren für Verhandlungen offen. Solange die Islamisten nur ihre eigene Bevölkerung ausnehmen und terrorisieren, sind sie dabei völlig ungestört. Im Gegenteil: Sie empfangen sogar Hilfsgelder für die verarmten Untertanen und finanzieren damit ihre Waffenprogramme. Bei Hamas und Taliban ist dies gemeinhin bekannt. Die Taliban finanzieren sich außerdem durch exzessiven Drogen-, Sex- und Menschenhandel. Niemand kann ernsthaft glauben, die bewaffneten bärtigen Schlächter könnten sich über Nacht „gemäßigt“ haben.

Große Gefahr für Israel

Besonders gefährlich ist diese naive Hoffnung für Israel. Denn es steht ganz oben auf der Abschussliste aller islamistischen Gruppen. Bei den Taliban ist das nicht so offensichtlich wie bei Hamas und Hisbollah, die direkt an Israels Grenzen operieren. Der Einflussbereich der Taliban scheint auf Afghanistan beschränkt zu sein – natürlich abgesehen von der engen Verbindung zu Pakistan. Dabei ist der Antisemitismus das verbindende Element, wenn nicht gar der Kern aller islamistischen Gruppen über theologische Grenzen hinweg.

Das World Trade Center wurde 2001 als vermeintliche Schaltzentrale eines „internationalen Finanzjudentums“ angegriffen. Antony Summers und Robin Swan beschreiben in ihrem Buch „The Eleventh Day“ den Hass auf Israel als den Faktor, der die Mörder vereint habe. Die USA seien als Schutzmacht Israels angegriffen worden. Osama Bin Laden selbst hatte in einer Erklärung mit dem Titel „Dschihad gegen Juden und Kreuzfahrer“ sein antisemitisches Weltbild offengelegt: Das Ziel der USA sei es, durch Kriege Israel zu dienen und von der Besatzung Jerusalems und dem Mord an den dortigen Muslimen abzulenken. Es sei die Pflicht eines jeden Muslims, die Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten und die Al-Aqsa-Moschee zu befreien. Ganz in diesem Sinne haben die Taliban im Zuge ihrer „Regierungsbildung“ angekündigt, mit allen Ländern außer Israel Beziehungen pflegen zu wollen.

Im Laufe des israelisch-palästinensischen Konflikts hat der Westen eingeübt, den Vernichtungsantisemitismus islamistischer Terrorgruppen herunterzuspielen oder auszublenden. Auch die eher nationalistisch als islamistisch strukturierte Fatah, die Israel als Friedenspartner präsentiert wird, trägt ihren Judenhass offen zur Schau. Palästinenserchef Mahmud Abbas (Fatah) würde – wäre er deutscher Staatsbürger – im Gefängnis sitzen. Wegen Holocaustleugnung und Mitgliedschaft bezieungsweise Unterstützung terroristischer Vereinigungen. Aber in Bezug auf Israel gelten andere Maßstäbe.

2013 hat der damalige US-Außenminister John Kerry Israels ehemaligen Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud) eingeladen, sich ein Modell für eine mögliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts anzuschauen. Nach diesem Modell könne Israel sich aus dem Westjordanland zurückziehen und es den USA überlassen, die Terroristen in Schach zu halten. Die geheime Reise sollte nach Afghanistan gehen. Netanjahu hat dankend abgelehnt.

Erinnerung an israelische Erfahrungen in Libanon und Gaza

Israel ist eines der wenigen, wenn nicht das einzige Beispiel eines Landes, das feindliche Terrorgruppen so weit unter Kontrolle hält, dass für die Bürger des Landes ein Leben in Freiheit und Demokratie noch möglich ist. Die böse „Überraschung“ in Afghanistan ist eine Erfahrung, die Israel in abgewandelter Form mit verheerenden Folgen bereits zweimal hinter sich hat: Nach dem militärischen Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2000 und dem Gazastreifen 2005 hat sich das hinterlassene Machtvakuum mit Terror gefüllt. Die Hisbollah im Libanon und die Hamas in Gaza konnten sich seitdem zu schlagkräftigen Terrorarmeen entwickeln. Der Schutz der Menschen in Israel ist eine immense Herausforderung. Diese Herausforderung wird weiter wachsen, je mehr der Westen terroristische Strukturen auf der Welt zulässt und gleichzeitig Israel sogar für Defensivmaßnahmen wie Mauern und Checkpoints verurteilt.

Der Fall Afghanistans ist auch ein Sieg für den Iran, dessen Führung sich ähnliche Szenarien für Syrien und den Irak wünscht: Dass die Amerikaner abziehen, die Länder dem Chaos überlassen und der Iran seinen Einflussgürtel um Israel enger ziehen kann. Die iranische Führung hat sich nach bitteren Streitigkeiten in der Vergangenheit mit den Taliban ausgesöhnt und unterstützt offen deren Emirat. Auch Russland und China sind nicht abgeneigt. Die Fronten, die sich hier auftun, betreffen längst nicht nur Afghanistan, sondern bedrohen Israel und die gesamte freie Welt. Trotzdem wird bald Ruhe einkehren. Nämlich dann, wenn ein paar symbolische „Ortskräfte“ ausgeflogen wurden und mit den letzten Soldaten auch die letzten Kameras aus Kabul abziehen. Die Regierungen von den USA, Deutschland und anderen beteiligten Ländern sowie die Gesellschaften, die sie vertreten, werden zur Tagesordnung übergehen. Bis sie sich irgendwann zu erpressbar gemacht haben oder der nächste islamistische Anschlag auf einem Weihnachtsmarkt „passiert“.

Von: Carmen Shamsianpur

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